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Ulrike von der Osten
Klaus Honnef
Manchmal scheint es, als ob der Blick von oben die großformatigen Bilder Ulrike von der Ostens regiert. Der Blick auf eine Landkarte. Dann wieder wechseln Aufsicht und Ansicht bei der Betrachtung; mitunter gleichzeitig. Man weiß nicht genau, welche Position dem Bildgeschehen gegenüber die richtige ist. Vermutlich beide. Ein leichter Schwindel begleitet die Wahrnehmung. Dazu trägt die kühle Atmosphäre durch die eigenwillige Farbgebung bei. Kühles Blau dominiert, bisweilen ein fahles Grün-Grau, unterbrochen von erdigen Klängen und sparsamen, aber starken Akzenten in Rot.
Breite Farbbänder ziehen sich über einen farbigen und in Zonen gegliederten Hintergrund. Häufig übernimmt dieser eine operative Aufgabe und lässt seine Rolle als Fond vergessen. Fläche und Raum verbinden sich zum dynamischen Feld. Vibrationen entstehen. Einige Farbbänder über- oder unterschneiden, verschlingen und ballen sich von Fall zu Fall zusammen, andere verlaufen ruhig in horizontaler oder vertikaler Richtung. Gelegentlich wirken sie auch wie Sperrriegel. Einige Gemälde rufen Assoziationen an Luftaufnahmen unübersichtlicher Autobahnkreuze hervor, andere an Giovanni Battista Piranesis „Carceri” (Kerker). Zumal wenn sich der Blick in ihrem labyrinthischen Gefüge verstrickt und kein Herauskommen mehr findet.
Die Bilder appellieren unmittelbar an die physische Seite der Betrachter, aktivieren die motorischen Veranlagungen. Unwillkürlich folgt man den Farbbändern mit den Augen, bis sie ob kurz oder lang abrupt enden, irgendwo, nirgendwo. Die Bewegung überträgt sich auf den gesamten Körper. Zusätzlich animiert von den kühlen, aber kräftigen Farben und zugespitzt von den sparsam eingesetzten starken Kontrasten. Auf verblüffende Weise wird beim Sehen der Prozess des Malens spürbar, die physischen Vollzüge der Malerin, die spontanen Entscheidungen, die zu treffen sind, wenn es die elementaren Bedingungen des Hand-Werks Malerei erfordern; nicht weniger die Phasen des Innenhaltens, Beobachtens und Nachdenkens, des kontrollierten Wegnehmens oder Übermalens.
Ulrike von der Osten unternimmt mit ihren Gemälden eine faszinierende Reise in das nie vollständig zu entdeckende Universum der Malerei und nimmt die Betrachter mit.
Bonn, 2020
Am Scheitelpunkt des Unbewußten
Über Ulrike von der Ostens vielschichtiges Werk und ihr aktuelles Projekt,
das der Stunde Null eine plastische Form gibt.
Katinka Fischer
Am 8. Mai 1945 schlug die Stunde Null. Seit die Kapitulation Deutschlands das Ende
des Zweiten Weltkrieges und den Zusammenbruch des nationalsozialistischen Staates
besiegelte, ist dieser Tag kein bloßes Datum mehr, sondern eine Ikone. Sie gibt einem
historischen Moment Gestalt, an dem Diktatur und Terror zu Vergangenheit wurden
und eine Zukunft begann, die Demokratie und Freiheit verhieß. Der „Scheitelpunkt“,
an dem sich die Welt damals befand, gibt Ulrike von der Ostens aktuellem Projekt den
Titel. Dafür hat die Künstlerin zunächst 100 Menschen gesucht, die an einem 8. Mai
geboren wurden, und sie um ein Porträtfoto von sich gebeten. Nach diesen Vorlagen hat
sie in Materialien wie Ton, Pappmaché oder Knete unterschiedlich große Köpfe modelliert.
Im Dialog mit ihrer Malerei präsentierte von der Osten diese Figurengruppe an der
Frankfurter S-Bahnstation Taunusanlage, die durch das Engagement des Kunstvereins
EBENE B1 zur Ausstellungsadresse wurde. An diesem ungewöhnlichen Ort gewährt sie
Einblicke in ihr so umfangreiches wie facettenreiches Werk.
Ulrike von der Osten, die bei Georg K. Pfahler an der Akademie der bildenden Künste
in Nürnberg studiert hat, legt den Schwerpunkt ihres künstlerischen Schaffens auf die
Malerei, arbeitet aber auch in anderen Medien. Neben Fotografie und Film gehören dazu
Aktionen und Installationen. So lotete sie in einem Schrank schon die Arbeitsbedingungen
von Künstlern aus, übersetzte den menschlichen Perfektionsdrang in bewegte Bilder
und führte in einem weiteren Video vor Augen, dass es von der Perspektive abhängt,
ob eine Stadtlandschaft wie das Paradies oder wie ein Abgrund erscheint. Das Scheitelpunkt-
Projekt setzt Ulrike von der Ostens Reflexion gesellschaftlich und politisch
relevanter Fragen konsequent fort.
Die große, prompte und generationenübergreifende Resonanz auf einen Aufruf in
den lokalen und sozialen Medien belegt, dass die Schreiber der E-Mails die zeitliche
Koinzidenz von persönlichem und historischem Moment keineswegs als bloße Laune
des Schicksals betrachten, sondern sich der Geschichte vielmehr auf besondere Weise
verbunden fühlen. Die Köpfe, die Ulrike von der Osten unter dem Eindruck ihrer Erzählungen
und Fotos geformt hat, geben all den individuellen Lebensfacetten, Erfahrungen
und Einsichten, aus denen sich der Begriff des 8. Mai zusammensetzt, buchstäblich ein
Gesicht. Zugleich nimmt darin ein vielstimmiges Geschichtsbewusstsein plastische
Form an. Die kleinen Skulpturen fügen sich damit zu einem Mahnmal, dessen implizite
Forderung lautet, Freiheit auch als Verantwortung zu begreifen. Ein solcher Auftrag hat
sich naturgemäß nie erledigt. So erhält Ulrike von der Osten nach wie vor zahlreiche Zuschriften,
die keinesfalls zu spät kommen. Im Gegenteil sollen neue Köpfe folgen, so dass
„Scheitelpunkt“ zu einem „work in progress“ wird, dem weitere Ausstellungsstationen
zu wünschen sind.
Auf die Idee zu diesem Projekt kam die Künstlerin durch die Situation am Ort der
Auftaktausstellung. In der Frankfurter B-Ebene befindet man sich ebenfalls an einem
Scheitelpunkt, an dem sich zwei Welten scheiden: Unter dem städtischen Vorzeige-
Ensemble aus Bankenviertel, Alter Oper und Parkanlage strömen täglich viele tausend
Menschen meist eilig von einem Ort zum anderen. Seit 2017 bespielt der Kunstverein
EBENE B1 dort die Gänge und Vitrinen und verfolgt damit das ambitionierte Ziel,
Passanten in dieser trotz Sanierung eher unwirtlichen Umgebung zu einer Begegnung
mit der Kunst anzuregen. Seit dem ersten Lockdown im Frühjahr 2020 läuft die durch
Crowdfunding und Vereinsmittel finanzierte Ausstellungsreihe „Die Kunst braucht
Dich“, die zunächst zehn Künstlerinnen und Künstlern aus der Rhein-Main-Region
jeweils eine Einzelschau ermöglicht und damit Überbrückungshilfe für eine von der
Pandemie besonders hart getroffene Zunft leistet.
In der EBENE B1 präsentiert Ulrike von der Osten freilich nicht allein ihr jüngstes
Projekt. Stattdessen lernt man dort die „ganze“ Künstlerin kennen, das heißt vor allem
auch die Malerin. Dass ihre Bilder ebenfalls um das Thema Freiheit kreisen, verbindet
sie mit den 100 Köpfen des 8. Mai.
Ihre während der letzten Jahre entstandenen Motive zeigen abstrakte Strukturen in
starken, aber meist gebrochenen Farben. Man sieht Kreuzungen, Knotenpunkte, Kurven
und Flächen, die mit wechselnd freiem wie geplantem Pinselstrich auf die Leinwand
gebracht wurden. Der Eindruck, dass es sich dabei um stilisierte Straßen, Schienen und
Trassen handelt, wie sie auf Lage-, Straßen- oder Metro-Plänen zu sehen sind, ist nicht
nur der suggestiven Kraft des Ausstellungsortes geschuldet, bei dem es sich schließlich
um einen der meistfrequentierten S-Bahnhöfe der Stadt handelt.
Im Titel der Ausstellung „maps and other situations“, die 2020 in der Frankfurter
Galerie Heussenstamm/Raum für Kunst und Stadt lief, wurde ein entsprechender
Bezug schon einmal offenbar: In ihren Bildern kartographiert Ulrike von der Osten
das Unterbewusste.
Die Leinwände zeigen ein Allover aus Flächen und Linien, die einander überlagern,
überkreuzen und durchdringen, aber selten völlig überdecken. Etwas vom Darunter
scheint immer durch. Auf diese Weise wird nicht nur der Malprozess sichtbar.
Vielmehr kann man dies zugleich als Metapher für Geschichte und die damit verbundenen
Fragen auffassen, die die Künstlerin auch in anderen Teilen ihres Werks zum Thema
macht. So bewegt sich ihre Malerei an gleich mehreren Scheitelpunkten, indem sie das
Spannungsverhältnis zwischen Abstraktion und Gegenständlichkeit, Transparenz und
Opazität, Opulenz und Reduktion, vorne und hinten, vorher und nachher auslotet.
Sowohl auf der großen Leinwand wie auf kleinem Papierformat scheinen sich die Kompositionen
in den Raum über die Bildkante hinaus erstrecken zu wollen.
Auf diese Weise entsteht der Eindruck eines Ausschnitts, der ein weiteres Mal auf die
reale Welt verweist. So glaubt man auf der Leinwand wiederzuerkennen, was man auch
in Ulrike Ostens jüngstem Film sehen kann: eine am Fenster eines fahrenden Zuges
vorbeiziehende (Stadt-)Landschaft.
Frankfurt am Main, 2022
Erzählen, wie das Leben ist
Zur Bildauffassung von Ulrike von der Osten //
Angelica Horn
Ulrike v. der Osten erzählt in ihren Bildern, ohne Geschichten zu erzählen. In ihren Bildern ist
eine Erzählung möglich geworden, die weder narrativ Ereignisse verknüpft, wie dies zeitgenössisch
in Gemälden von Neo Rauch unternommen wird, und früher z.B. die Maler der deutschen
Romantik erstrebten, noch die zentrale Situation einer Geschichte hervorhebt, wie dies Lessing
am Bildwerk des Laokoon demonstrierte und dies in der Historienmalerei, z.B. von Jaques-Louis
David, angestrebt wurde, oder heutzutage Thomas Demand macht, auch wenn dieser gerade
nicht erzählt, sondern in der Rekonstruktion des Tatorts an die verbreiteten Bilder des Geschehens
erinnert. Die Geschichte im Sinne einer Abfolge, eines zeitlichen und vielleicht im Bilde
zu bannendes Geschehen ist nicht Ulrike v. der Ostens Anliegen oder Ziel. Ihre Bilder erzählen.
Aber sie erzählen keine Geschichte, kein Geschehen: Sie erzählen eine Situation.
Eine Situation zu erzählen, bedeutet nicht, sie zu beschreiben, denn das Beschreiben wäre
bereits eine Geschichte. Erzählen bedeutet, kund zu tun, wie etwas ist und wie es aussieht.
Es geht nicht um einen Ausschnitt, nicht um den alles versammelnden Augenblick, nicht um die
Prägnanz im Kontext der Historie, nicht um den Verlauf von einst bist jetzt und morgen. Es geht
um die Situation, die in sich zeitlos ist und zugleich in sich Zeit hat. Geschichte bleibt außerhalb
des Bildes, die Situation ist in ihr.
Ulrike v. der Osten steht in ihrer Bildauffassung in der Tra dition eines Paul Cezanné, der wohl als
erster jede Geschichte aus dem Bild ließ, ohne abstrakt auf das Bild als Bild zu reflektieren.
Das Entscheidende ist die Erkenntnis, daß ein Bild als Erzählung einer Situation darin Bestand
hat, daß jede malerische Setzung den gleichen Rang, dieselbe Wertung, dieselbe Bedeutung
hat. Umgekehrt gesagt, das Bild als Situation der Malerei besteht in der Demonstration einer
gesehenen, einer sichtbaren Erzählung.
Ein Angler steht im Bild. Die Fußstellung deutet darauf hin, daß er sich im Gehen befindet. Als
zentrale Figur ist er dadurch markiert, daß die Farben der anderen Bildflächen sich in seiner
Kleidung wiederfinden, die Farbe des Bodens, wie die blaue Fläche, die wir als Meer zu
identifizieren geneigt sind. Die Angelrute stellt die Beziehung zu dieser Fläche her. Aufgrund
der Fußstellung wissen wir, daß er nicht am Angeln ist. Es geht nicht um das Geschehen des
Angelns, sondern um die Situation des Anglers in eben diesem Kontext.
In anderen Situationen ist die Figur des Anglers in ihrer Farbigkeit freigestellt vom Kontext. Ulrike
v. der Osten scheut sich nicht, das Atmophärische der Farbigkeit in Anspruch zu nehmen. Die
Atmosphäre ist spürbare Verdichtung der Situation. Besonders deutlich wurde mir das vor dem
Bild „Kindheit”, in dem die zentrale Figurengruppe wie entrückt scheint – in der Malweise wie
durch das sie umgebende Grün, eben wie ein Bild aus der Vergangenheit, ohne daß sich das
Grün der Situation bemächtigen kann, nicht zuletzt durch die aufgesprengten Farbpunkte, wie
sie sich auch in anderen Bildern finden. Das Atmosphärische nimmt teil – gerade weil es sich
nicht um Geschichte, um keinen Roman handelt.
Ulrike v. der Osten bedient sich oft eines oder mehrerer Fotos, um eine Situation, zusätzlich zu
ihrer Erinnerung, festzuhalten. Im Falle der Wanderer im Walde waren es mehrere Fotos, was
dazu fährt, daß jede Figur für sich steht und geht. So fügen sie sich in den Kontext der Bäume
ein. Kontext und Figur reflektieren sich wechselseitig – es geht um die Autonomie des Bildes und
um Freiheit. Das schließt die Teilhabe der Malerin an ihren Bildern ein.
Ulrike v. der Osten realisiert ihre Bildauffassung, in dem sie mit möglichst luzidem Farbauftrag,
die jedes malerische Ereignis in seiner Freiheit aufscheinen läßt, die Figuren ihrer Bilder deutlich
macht: Sei es eine Person, eine Gruppe von Bäumen, oder eine einzelne Figur im Schnee. Die
Sprache verrät sich, weil sie versucht zu identifizieren, Figuren festzuhalten. Und die Wahrnehmung
tendiert auch dazu. Den Angler können wir nicht begreifen, die Situation nicht verstehen,
wenn wir nicht die Farbe der anderen Bildflächen sehen.
Menschen im Wald, unterwegs, so erzählt die Sprache. Das Bild zeigt, wie jeder für sich ist.
So wie jeder Baum, jeder Strich, jeder Fleck [tache]. So erzählen die Bilder von Ulrike v. der
Osten, wie das Leben ist. Jeder und jedes ist für sich. Und zugleich gibt es die glücklichen und
glücklichsten, wie die einsamsten oder traurigsten Situationen, wo Kontext und Verbindung vom
Menschlichen reden. Für mich am großartigsten ist dies gelungen im Bild einer Frau mit Vogel
auf einem Balkon. Das Lapidare des Lebens – das vermeintlich Lapidare – die Situation, die
Präzision des Bildes auf den Punkt zu bringen - genau das erzählt davon, wie das Leben ist.
Frankfurt am Main, 2009